Identitätsfunktion
Systemzweck: Nutzen stiften
Die Identitätsfunktion hat verglichen mit den fünf weiteren Managementfunktionen eine besondere Bedeutung. Mit ihr wird der Systemzweck definiert. Beispielsweise wird für ein Unternehmen mit Hilfe eines Gesellschaftsvertrages der Zweck des Unternehmens gesetzt. Nicht ohne Grund bezeichnet man Gründungsurkunden immer wieder auch als „Satzungen“. Dieses Wort stammt aus dem mittelhochdeutschen ‚satzunge‘ und bedeutet (Fest-)setzung, Bestimmung. Menschen schließen sich zu Organisationen zusammen, weil sie einen gemeinsamen Zweck verfolgen wollen, den jeder für sich alleine nicht erfüllen oder realisieren kann.
Dieser Zweck einer Organisation hat in der Regel einen langfristig überdauernden Charakter. Er ist jedoch nicht das einzige technische Element der Identitätsfunktion. Leitbilder, Grundsätze für Führungs- und Zusammenarbeit oder auch eine Business Mission sind weitere Instrumente, die den Unternehmenszweck konkretisieren und ausgestalten. Die Inhalte dieser Dokumente müssen dabei konsequent auf die Menschen oder Gruppen ausgerichtet werden, die aus den Aktivitäten der Organisation Nutzen ziehen sollen. Allein schon die Klarheit, welche Zielgruppe im Zentrum der Bemühungen einer Organisation steht, hat eine große und wichtige Orientierungskraft für Führungskräfte und Mitarbeitende. Aufgabe des Top-Managements ist, die Fokussierung auf den Systemzweck abzusichern und wegweisende, den Systemnutzen betreffende Entscheidungen zu fällen.
Insbesondere in Sozial- und Gesundheitsorganisationen mit ihren zahlreichen Interessensgruppen erlebe ich in meinem Beratungsalltag oft jedoch genau das Gegenteil. Da will man jedem, der irgendwie direkt oder indirekt mit der Organisation verbunden ist, alles recht machen. In einer Altenhilfeeinrichtung sollen die Bewohner genauso zufrieden sein, wie ihre Angehörigen, die Mitarbeitenden, die Heimaufsicht oder der medizinische Dienst der Krankenkassen. Oder ein anderes Beispiel aus der Industrie: Ein Lebensmittelhersteller möchte den Verbraucher ebenso zufriedenstellen, wie die Händler, die seine Waren vertreiben. Hier scheinen systemisch und strukturell bedingte Interessenskonflikte nicht im Blick zu sein oder in ihrer Bedeutung nicht erkannt zu werden.
Ich schlage vor, die Gruppe der Kunden und Leistungsempfänger nicht lediglich als eine von mehreren Interessensgruppen zu verstehen, sondern als den zentralen Orientierungspunkt für alle Aktivitäten einer Organisation. Und dort, wo die Interessen einer Gruppe mit denen einer anderen Gruppe kollidieren, immer den Kundeninteressen den Vorrang einzuräumen. Dieser Grundsatz muss dann für Mitarbeitende und Führungskräfte gleichermaßen gelten, damit sie sich auf einen gemeinsamen Handlungskorridor „einschwingen“ können.
Sinn finden und sich engagieren
Der Nutzen, den eine Organisation für die Menschen ihrer Zielgruppe schafft, ist für Mitarbeitende und Führungskräfte zugleich das sinnstiftende Element. An ihm erkennen sie den Sinn ihrer Arbeit. Der Organisationsnutzen ist es, der ihr Engagement mobilisiert. Auf ihn richten sie es aus. Auf die Bedeutung des „Sinns“ hatte ich bereits in meinem Blog-Beitrag „ManageMENTalität“ hingewiesen. Hier sei noch einmal betont, dass Menschen in Ihrem Handeln Sinn erkennen müssen. Fredmund Malik erläutert in seinem Buch „Management – Das A und O des Handwerks“, dass Sinn die Basis für jede Motivation ist. Sinn wird zum persönlichen Grund, zur individuellen Erklärung, warum es wertvoll ist, sich in einer Sache zu engagieren.
Ist die Identitätsfunktion einer Organisation gut erfüllt, werden ein erstrebenswerter Zweck und der Nutzen, den sie stiften will, deutlich. Darin erkennen Menschen den Sinn, der sie dazu motiviert, eigene engagierte Beiträge zum Organisationszweck zu leisten. Die Identitätsfunktion bietet aber auch die Grundlage, alle Initiativen und Aktivitäten einer Organisation zu überprüfen und an ihrem Zweck auszurichten. Sie gewährleistet zum Beispiel, dass neue Ideen und strategische Stoßrichtungen bewertet werden können. Was nicht zu Identität und Zweck der Organisation passt, wird ausselektiert und nicht weiterverfolgt. Damit fokussiert und konzentriert die Identitätsfunktion Kräfte und Ressourcen.
Abgrenzen und dazugehören
Psychologie und Soziologie gehen davon aus, dass ein Mensch seine Identität auch dadurch ausbildet, dass er sich auf der einen Seite mit etwas identifiziert und sich auf der anderen Seite gleichzeitig von etwas anderem abgrenzt. Dies gilt in ähnlicher Weise für Gruppen und Organisationen. Zum Beispiel wird sich ein Team mit der Gesamtorganisation identifizieren, sich dabei gleichzeitig aber von anderen Abteilungen abgrenzen. Wenn Teams allerdings nicht klar wissen, warum es für sie gut ist, Teil einer Gesamtorganisation zu sein, entstehen falsche Abgrenzungstendenzen bis hin zu Spaltungsenergien. Das Engagement des Teams wird dann nicht mehr auf den Zweck des Unternehmens ausgerichtet, sondern vorrangig auf die eigenen Interessen.
Solche Situationen habe ich immer wieder bei Fusionen von Unternehmen erlebt oder bei Unternehmenskäufen. Da „schluckt“ z. Bsp. ein großes Unternehmen ein kleineres. Nun wird davon ausgegangen, dass sich die Mitarbeitenden des kleineren Unternehmens wie selbstverständlich mit dem großen Unternehmen identifizieren. Grotesk wird das Ganze, wenn die beiden Unternehmen zuvor in einem harten Konkurrenzkampf standen. Wie sollen sich Mitarbeitende mit dem Unternehmen identifizieren können, gegen das sie in den letzten Jahren gekämpft haben?
Ich durfte auch die Abteilung eines DAX-Unternehmens begleiten. Die Führungskräfte konnten nicht klar beschreiben, warum es gut ist, dass es die eigene Abteilung gibt. Sie fanden keine Antworten auf die nachstehenden Fragen: „Was unterscheidet unsere Abteilung von anderen Abteilungen im Unternehmen?“ „Welche Leistungen erbringen wir und welchen Nutzen stiften wir Kunden, der nicht auch bei anderen Abteilungen im Portfolio steht?“ Es gab kein ausgeprägtes Wir-Gefühl und eine große Fluktuation in der Mitarbeiterschaft.
Eine intakte Identitätsfunktion trägt in Teams und Organisationen zur Ausbildung eines Wir-Gefühls bei. Sie fördert die Kohäsion, den Zusammenhalt der Teile einer Organisation. Es entwickelt sich ein Verständnis dafür, weshalb die eigenen Beiträge und Leistungen als Teil einer Gesamtorganisation wirksamer sind, als wenn sie in einer eigenständigen, abgegrenzten Unternehmung erbracht würden. Sie ist Gewähr dafür, dass sich Menschen als Teil eines sozialen Systems verstehen und wissen, inwieweit sie sich damit von anderen Teilen unterscheiden.
Wettbewerb und Selbstbewusstsein
Resultiert die Identität einer Organisation auch aus ihren Besonderheiten und Stärken, kann sich die Organisation damit von Wettbewerbern abgrenzen. Sie stärkt damit ihre Wettbewerbsposition und das eigene Auftreten. Wer Alleinstellungsmerkmale entwickelt hat, wird sich auch mit starkem Selbstbewusstsein im Wettbewerb präsentieren. Eine Identität, die auch die Unterschiede zu anderen Anbietern deutlich werden lässt und die einen besonderen Nutzenvorteil für ihre Kunden vermitteln kann, ist ein wichtiger Wettbewerbsvorteil. Er erweist sich aber nur dann als tragfähig, wenn die mit der proklamierten Identität verbundenen Erwartungen durch Produktion und Dienstleistung (vgl. Nutzenfunktion) tatsächlich auch konkret erfüllt werden können.
Drei Seiten einer Organisation
Stefan Kühl beschreibt in seinem Buch „Sisyphos im Management“ drei Seiten einer Organisation. Danach zeigt die „Schauseite“ all das, was die Organisationsmitglieder (insbesondere die Mitglieder des TOP-Managements) möchten, das in der Öffentlichkeit von ihr wahrgenommen wird. Gezielt wird das Unternehmen möglichst positiv dargestellt und in Hochglanzprospekten beschrieben. Oft gehören Darstellungen des Unternehmenszwecks und die oben genannten Elemente der Identitätsfunktion dazu. Neben dieser „Schauseite“ gibt es die „formale Seite“ einer Organisation. Hier wird mit Hilfe von Regelungen, Policies, Stellenbeschreibungen und Prozessvorgaben genau beschrieben, wie die Organisation arbeitsteilig funktionieren soll: Wer was zu tun hat, wer wofür verantwortlich ist und wer wen informieren muss. Blickt man in den Alltag von Unternehmen, so stellt man fest, dass sie teilweise nur deshalb funktionieren, weil man sich dort nicht an alle Vorgaben der formalen Seite hält. Hier werden sie „flexibel“ oder „kreativ“ ausgelegt, dort sogar ganz übergangen. Diese Praxis bezeichnet Kühl als „informelle Seite“ einer Organisation.
Die Identitätsfunktion muss alle drei Seiten einer Organisation in den Blick nehmen. Die reine Konzentration auf die Schauseite würde die Identitätsfunktion auf eine Marketingaufgabe reduzieren. Eine Überhöhung der formalen Seite dämpft die Kreativität der Mitarbeitenden und verschenkt Potenziale. Eine Organisation ohne die Festlegungen der formalen Seite würde hingegen im Chaos und in der Willkür einzelner Personen enden. Und wer die informelle Seite einer Organisation nicht sehen will, nimmt wesentliche Elemente ihrer Identität nicht wahr.
Die Identität einer Organisation zu gestalten, erweist sich damit als ein hoch komplexer Vorgang, und ist mit dem Erstellen eines Leitbildes nicht getan. Um die informelle Seite eines Unternehmens beeinflussen zu können, ist notwendig, sich als Führungskraft überhaupt erst einmal einen unverstellten Blick auf den Alltag der Organisation zu verschaffen (vgl. Managementaufgabe 1). Man sollte sich nicht ausschließlich auf jenes verlassen, was einem von Mitarbeitenden und Führungskräften berichtet wird.
Und machen wir uns bewusst, dass auch das eigene Verhalten kultur- und identitätsprägend ist. Als Vorbild wird die Unternehmensführung zeigen müssen, wie ernstgemeint Regelungen sind und an welche formalen Vorgaben sie sich auch selbst hält. Es gilt, Anspruch und Wirklichkeit der eigenen Identität in Balance und Einklang zu bringen. Das ist eine zentrale Herausforderung der Identitätsfunktion.
Wirksam gemanagt wird die Identität einer Organisation zu einer Kraft, die sowohl nach außen, als auch nach innen Orientierung bietet. Der Blick auf die beschriebenen drei Seiten ergänzt sich zu einem ganzheitlichen, schlüssigen und authentischen Bild.
Ein Hinweis zum Schluss:
Die Identität einer Organisation ist grundsätzlich etwas Überdauerndes. Jedoch nichts Unveränderbares. Die eingangs aufgeworfene Frage nach der Identitätserkenntnis ist immer mit Frage nach der Identitätsgestaltung verbunden. Erkenntnis führt zu verändertem Verhalten. Die Identität einer Organisation muss deshalb vorsichtig weiterentwickelt werden. Auch ohne Zutun findet aus meiner Sicht eine Art Reifungsprozess statt. Erfahrungen, Entwicklungen und Aktivitäten in einem System hinterlassen Spuren. Sie prägen das Selbstverständnis und die Wahrnehmung Dritter. Identitätsgestaltung hat indessen nichts mit Strategiearbeit oder mit operativen Entscheidungen zu tun. Vielmehr geht es um einen behutsamen, evolutionären Prozess – zumindest, wenn er „gesund“ ablaufen soll. Nehmen Sie sich Zeit für solch intime Gestaltungsprozesse!
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